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Rezensionen zu
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

Saša Stanišić

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Saša Stanišićs neuer Roman mit dem genialen Titel "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" besteht aus zwölf Erzählungen, die locker miteinander verbunden sind und sich einer zentralen Frage widmen: Was wäre, wenn man wichtige Entscheidungen anders getroffen hätte? Wie würde das eigene Leben dann heute aussehen? Wäre man glücklich? Stanišićs Erzählweise wird von mehreren Aspekten geprägt: Zum einen von seinem Talent, mit der deutschen Sprache zu jonglieren, ohne dass dies zulasten der Lesbarkeit und des Unterhaltungswerts geht. Es ist mir im Gegenteil stets eine wahre Freude, seine außergewöhnlichen Satzkonstrukte zu lesen. Die Geschichten sind oft mit einem Hauch von Melancholie angereichert, die jedoch durch den spielerischen und zuweilen ironischen Sprachstil aufgelockert wird. Zudem sind seine Texte von seinem feinen, trockenen Humor durchzogen und werden von liebenswerten Figuren und ihren inneren Konflikten bevölkert. Das zentrale Motiv dieser Kurzgeschichtensammlung, die Sehnsucht nach ungelebten Leben und die Frage, was man möglicherweise verpasst hat, beleuchtet Stanišić auf vielfältige Weise und regt so zum Nachdenken an. Sei es durch den frustrierten Vater, der stets gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory verliert oder durch die einsame Rentnerin Gisela, die außer dem Besuch des Grabes ihres Mannes nur noch wenige Verpflichtungen hat oder die Migrantin, die einer egozentrischen Frau die Wohnung putzt und an ihre Kindheit zurück denkt. "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" überzeugt vor allem durch das sprachliche Geschick des Autors, durch seine Kompetenz, selbst kurzen Geschichten Tiefe und Bedeutung zu verleihen und seine Fähigkeit diese einzelnen Geschichten durch ein zentrales Thema gekonnt miteinander zu verbinden. Ganz große Leseempfehlung!

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Als großer Fan von Saša Stanišić kann ich sein neues Buch nur jedem ans Herz legen. Was mich an Stanišićs Schreiben besonders fasziniert, ist seine Fähigkeit, gehaltvolle Themen mit einer Mischung aus Leichtigkeit, Humor und ernster Reflexion zu verbinden. Seine Figuren sind so authentisch und lebendig, dass man das Gefühl hat, sie persönlich zu kennen. Stanišićs Sprache ist elegant und kraftvoll, und er schafft es, die alltäglichen Kämpfe und Träume seiner Protagonisten in einer Weise darzustellen, die sowohl berührt als auch zum Nachdenken anregt. Saša Stanišićs „Möchte die Witwe angesprochen werden …“ ist ein meisterhaft komponierter Erzählband. Stanišić erweist sich einmal mehr als einfühlsamer Chronist unserer Zeit. Er entfaltet seine Geschichten wie ein kunstvolles Mosaik, das die großen Themen Herkunft, Identität und Zugehörigkeit in den Mittelpunkt rückt. Die erste Geschichte versetzt uns in den Sommer 1994, wo vier Freunde, die sich selbst als „Ausländerjungs in Deutschland“ bezeichnen, in den Weinbergen Heidelbergs träumen und philosophieren. Fatih, einer von ihnen, entwickelt die revolutionäre Idee eines „Proberaums fürs Leben“, in dem man zehn Minuten seiner Zukunft ausprobieren kann. Stanišić gelingt es, diese Mischung aus Science-Fiction und existenzieller Philosophie mit einer solchen Leichtigkeit und Tiefe zu erzählen, dass der Leser unweigerlich in den Bann gezogen wird. Stanišićs Stärke liegt darin, uns an das Gute im Menschen glauben zu lassen, ohne die Härten des Lebens zu verschweigen. Seine Protagonisten, zumeist Menschen mit Migrationshintergrund, entwerfen sich bessere Zukünfte, um die sie qua Herkunft oft betrogen werden. Mit scharfem Blick und viel Empathie schildert Stanišić ihre Kämpfe und Träume. Stanisic Erzählstil in den zwölf Geschichten ist spielerisch. Das Buch ist nicht nur eine Sammlung fiktiver Lebensmodelle, sondern auch eine Reflexion über den eigenen Weg des Autors zur Schriftstellerei. Stanišić verbindet Fakt und Fiktion, Realität und Fantasie auf kunstvolle Weise und schafft so ein literarisches Universum, das den Leser tief bewegt und zum Nachdenken anregt. Die Geschichten sind eng miteinander verwoben und reichen von der Insel Helgoland bis hin zu den unendlichen Möglichkeiten des Erzählens. Besonders die titelgebende Geschichte um eine Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes wieder bereit für eine neue Liebe ist, zeigt Stanišićs Talent, tiefe menschliche Emotionen einzufangen. Die Geschichten, die von vier Migrantenjungs in Heidelberg ausgehen, erstrecken sich über verschiedene Lebenswirklichkeiten und bieten immer wieder neue Perspektiven Stanišić schreibt mit einer Mischung aus Witz und literarischer Courage, eine Erzählstruktur, die Vergangenheit und Zukunft, Fakt und Fiktion miteinander verwebt. Mit „Möchte die Witwe angesprochen werden …“ beweist Stanišić einmal mehr seine außergewöhnliche Fähigkeit, tiefgründige Themen mit Leichtigkeit und Humor zu verbinden. Seine Geschichten sind ein Spiegel unserer Gesellschaft, die uns zum Nachdenken und Träumen einladen. Stanišićs Sprache ist elegant und kraftvoll, seine Figuren sind lebendig und berührend. Er versteht es wie kaum ein anderer, das Menschliche in all seinen Facetten darzustellen und dabei stets authentisch und nahbar zu bleiben.

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Der Sommer gibt alles. Die Sonne knallt hinab auf die Stadt. Saša und seine Freund:innen haben sich auf die Hänge verzogen. Oben, in die Weinberge. Hier ist es kühler. Viel kühler als im Wohngebiet, wo kluge Planer vergessen hatten, Bäume mitzuplanen. Gesprächsthema sind die Familienurlaube. Klassisch nach Italien, sagt der eine. Ein anderer spricht von der Türkei, zu der er keinerlei Verbindung hat. Bis auf die sechs Wochen im Sommer, weil Vater es so wünscht. Sein Zuhause, ihr aller Zuhause, ist diese Stadt am Neckar. Und für Saša? Helgoland. Das gibt es? Noch nie von gehört. Saša schon, und Jahre später, wieder dieser Ort, dieser rote Felsen mitten in der Nordsee. Ein Déjà-vu, dieselbe Kneipe, dieselbe Frau. Nur Jahre später. Hier sei er noch nie gewesen, gibt Saša im Quasiverhör zu Protokoll, und dennoch ist seine Erinnerung lebhaft. In seiner Phantasie sieht er alles vor Augen. Das Meer und den Strand, wo Heinrich Heine schwamm. Wo er im Inselort von der Revolution erfuhr und seine Hoffnungen für das französische Volk zu Papier brachte. Urlaub hieß für Saša damals Freiheit von den Eltern und Lesen im Hochsitz. Und als er liest, Geschichten imaginiert, darin versinkt, hört er Rufe. Die Stimmen der Kumpels, die fragen, wo Saša bleibt. Wann er wiederkomme. Es sei doch Samstag und Frau Idzikowska brät ihren Braten für die Jungs zum Doppelkopf. „Zum Doppelkopf triffst du dich, weil du beim Doppelkopf nicht spürst, dass die Zeit existiert. Anders als auf der Arbeit oder nach dem Aufwachen oder beim Frisör. Beim Doppelkopf spürst du weder das harte Tuch, aus dem die Vergangenheit gewebt ist, noch hörst du die Sorgen aus der Zukunft deinen Namen rufen.“ (S. 126) Hätte Saša Stanišić mit ‚Herkunft‘ nicht kürzlich den Deutschen Buchpreis gewonnen, dieses Buch hat die Auszeichnung verdient. Sein aktueller Roman ‚Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne‘ ist inhaltlich, stilistisch und formal ein Phänomen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Stanišić bleibt seinen bisherigen Arbeiten treu und stellt coming-of-age-like sein autofiktionales Ich inklusive Jungsclique in den Mittelpunkt. In jedem Kapitel thematisiert der Autor alltägliche Episoden und bindet sie im großen Handlungsrahmen mosaikartig zusammen. Sprachlich trägt jede Geschichte das individuelle Idiolekt seiner Protagonist:innen. Diese Stärke findet sich ebenfalls in der Form wieder. Auf 254 Seiten wechselt der Autor Erzählzeit, Format und Perspektive. Zugleich ist der Roman Produkt seiner Zeit und Stanišić deutlich in seinen Bezügen: Literatur als Zeitgenossenschaft. ‚Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grad die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne‘ ist ein Roman, der geschichtsbewusst und hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Stanišić ist ein Meisterstück gelungen, dass sich nicht in Genres fassen lässt. Ein Roman, der zuckersüß und mit jugendlich ehrlicher Neugier aufwartet, ohne in der Sommerhitze zu verglühen. Ein Roman als Blick in die Zauberkugel des Lebens.

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In diesem Buch gab es für mich ein Wiedersehen mit Figuren aus seinem früheren Erzählband „Fallensteller“. Damals hatte ich mich noch etwas schwer getan mit dem sehr eigenen Erzählstil des Autors. Diesmal war ich gleich mittendrin in den Geschichten, die sich um ganz unterschiedliche Menschen drehen. In der ersten Erzählung hängen vier Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Weinbergen ab und malen sich aus, wie praktisch ein Proberaum wäre, bevor man einen bestimmten Weg in die Zukunft einschlägt. Welche Lebensoptionen verpasse ich? Diese Frage zieht sich auch durch die folgenden Geschichten. Aus scheinbar banalen Tätigkeiten wie dem Entsorgen eines Memory-Spiels oder dem Putzen eines Heizkörpers mit einer Ziegenhaarbürste entwickeln sich philosophische Gedanken über die eigene Herkunft, Freiheit, Selbstbestimmung und das menschliche Dasein. An Fantasie und originellen Einfällen mangelt es Saša Stanišić wahrlich nicht, sei es bei spielerischen Wortkreationen, literarischen Bezügen oder der Vermischung von Realität und Fiktion. Ich hatte sehr viel Freude an diesen scharfsinnigen und teils humorvoll, teils melancholischen Geschichten, die sich zu einem Ganzen fügen.

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Was erwartet mich in einem Buch, dessen Titel schon eine Geschichte erzählt? Ich bin Fangirl, wenn es um Saša Stanišić geht. Hab ihn schon mehrmals live erlebt und würde zu gern mal Mäuschen spielen wenn er als Fußballtrainer einer F-Jugendgruppe in Hamburg seinen Charme versprüht. Er ist ein gefeierter vielfach preisgekrönter Autor, fabelhafter Vorleser und einer von uns, der „Junge“ von nebenan. Nun aber zum Buch: 1994 in Heidelberg, auf dem Weinberg, die Sonne ballert im Frühsommer auf die Betonblöcke der Sozialwohnungssiedlung herab. Ein paar 14jährige fantasieren sich eine geniale Idee zusammen. Was wäre, wenn es einen Proberaum fürs Leben gäbe, in dem du für 130 Mark 10 Minuten einer deiner möglichen Zukünfte probeleben könntest. Wenn Dir gefällt, was du siehst, kannst du dich für 130 Tausend Mark einloggen. Oder weitersuchen nach einer besseren Version. DIE 10 Minuten, in die du dich einloggst, bekommst du auf jeden Fall irgendwann in deinem Leben. Wie verändert Dich das Wissen darüber und das Warten darauf? Oder was wäre, wenn die Zeit einen Moment stehen bliebe? Und Du der, mit der du grad im Raum bist, einen Schnurrbart ins Gesicht malen könntest? Oder die Stille nutzen würdest, um festzustellen, dass andere bisher dein Leben bestimmt haben und jetzt der Moment wäre, die Zügel zu übernehmen? Und gibt es für die altersarme einsame Witwe, deren täglicher Höhepunkt der Gang zum Friedhof ist, auch einen Raum, in dem sie sich neu einrichten kann? Wir wohnen einem Konzert der unendlichen Möglichkeiten des Lebens bei, der zigtausend Abzweigungen, in die wir es lenken können und der Millionen Zufälle, auf die wir keinen Einfluss haben. Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand weiß, was es bedeutet, wenn die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne auf dem Grab steht? Minimal? Und doch passiert das Wunder. Man muss nur an das Unwahrscheinliche glauben und bereit sein, sich immer wieder neu zu erfinden. Es sind Geschichten von Menschen, vielstimmig aus allen Ecken der Gesellschaft erzählt. „Bitte der Reihe nach lesen“ empfiehlt der Autor. Und recht hat er. Was zunächst eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten zu sein scheint, findet zueinander und verwebt sich zu einem Klangbild ebendieser Möglichkeiten. Stanišić erzählt sprachgewandt (ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich daran denke, dass er mit 14 noch kein Wort deutsch sprach), witzig, schelmisch, frech, ironisch, aber auch melancholisch, nachdenklich und anrührend. Er gibt all seinen Figuren, auch den knorrigsten und verschlossensten eine Würde, die von einer großen Liebe zum Menschsein zeugt. Er erzählt in einem Tempo, dass mir schwindlig wird, schraubt Dialoge zusammen, die mich Aufjuchzen und laut lachen lassen und lässt mich in poetischen und nachdenklichen Momenten pausieren. Ein Feuerwerk der Erzählkunst, das ich mit einer Triggerwarnung versehen muss. Nix für FreundInnen linearer Romane in ruhigem Erzählfluss! Das hier ist bunt, wild, fluoreszierend, und absolut zauberhaft, vergnüglich und lebensbejahend. Mit Sätzen, die alles andere als kitschig sind und die man trotzdem in ein Poesiealbum schreiben möchte.

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Das Leben erzählt keine Geschichten, Saša Stanišić schon. Und er tut dies erfrischend verspielt, mit hintersinnigem Sprachwitz und einer Prise Melancholie.

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Große Literatur ganz leichtfüßig! Autofiktion als postmodernes Spiel der Möglichkeiten

Thalia Nord GmbH & Co. KG

Von: Markus Felsmann aus Köln

01.07.2024

Anders als vom Feuilleton behauptet handelt es sich bei Saša Stanišićs neuem Buch nicht etwa um einen weiteren Kurzgeschichtenband, sondern um einen Roman (auch wenn der Verlag geflissentlich auf eine Genre-Angabe verzichtet), der mit viel Witz und Rückgriff auf postmoderne Erzählverfahren in zwölf Episoden den Weg des Autors zum Schriftsteller schildert. »Was wäre wenn?«, fragen sich der junge Saša und drei seiner migrantischen Freunde zu Beginn des Romans und imaginieren einen Proberaum, in dem man sich zehn Minuten seiner potentiellen Zukunft ansehen und diese dann bei (Nicht-)Gefallen kaufen (oder ablehnen) kann. Mit den sich erzählerisch anschließenden Episoden voller Alltagspoesie und gesellschaftlicher Reflexionen zeigt Stanišić, wie unterschiedliche Entscheidungen zu verschiedenen Leben führen könnten. Dabei spielt er virtuos mit diversen Erzählstilen, Dialekten, sozialkritischen und literarischen Andeutungen – etwa auf die Werke Heinrich Heines oder den Roman »Cloris« von Rye Curtis. Stanišićs meisterhafte Beherrschung der deutschen Sprache und die Fähigkeit, tiefgründige Inhalte durch scheinbar einfache Alltagssituationen zu vermitteln, machen »Möchte die Witwe …« zu einem abwechslungsreichen und zutiefst menschlichen Werk. Große Literatur ganz leichtfüßig!

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Seit Jahren schon bin ich ein großer Stanišić-Fanboy: Ich feiere seine Romane hart, habe sie schon dutzende Male empfohlen, verliehen und verschenkt, nerve ungefragt alle um mich herum, was dieser Mann bloß für ein Genie ist, und bin mir sicher, wäre ich noch Teenie, hätte ich ein Poster von ihm an der Wand. Nun ist nach fünf Jahren – und ein paar Ausflügen in die Kinderliteratur – endlich wieder etwas Belletristisches von Saša Stanišić erschienen, dementsprechend hoch waren bei mir Vorfreude und Erwartung… Zwölf Kurzgeschichten sind es, die uns der Autor kredenzt, und das Erste, das – nach dem sperrigen Titel – auffällt, ist die Bitte: »Der Reihe nach lesen«. Na, der traut sich ja was! Also fangen wir brav vorne an und lernen Fatih, Piero, Nico und Saša kennen, vier Jugendliche, die in den Heidelberger Weinbergen gelangweilt Steine in die Luft werfen. Sie alle kommen aus Migrationsfamilien und sind sich der Tatsache bewusst, dass ihre Leben wahrscheinlich um einiges schwieriger sein werden als die der anderen Kids. Da hat Fatih die grandiose Idee für einen Proberaum für das Leben: Für 130 Mark darfst du für zehn Minuten in eine mögliche Zukunft lunsen. Gefällt dir, was du siehst, kannst du’s einloggen und das passiert dann auch irgendwann mal – das kostet dich dann aber 130.000 Mark. Die folgenden Geschichten sind ab da an so etwas wie mögliche Zukünfte verschiedener Figuren, Versionen von Schicksalen, die vielleicht noch sein mögen, vielleicht aber auch nicht. Mit diesem einleitenden Gedankenkonstrukt baut sich Stanišić einen eigenen Spielplatz, auf dem er stilistisch und narrativ alles hemmungslos ausprobieren darf, was ihm gerade unter die Tastatur kommt. Georg Horváth bricht in seiner Vaterschaftszeit Pokémon Go-Rekorde, verliert aber gegen seinen kleinen Sohn beim Memory; Dilek ist mal Mutter in Heidelberg, mal Putzfrau in Wien; Witwe Gisel erzählt ihrem Mann im Grab von der Welt um sie herum; ein Parallel-Universum-Saša Stanišić wird auf Helgoland eines schwerwiegenden Diebstahls bezichtigt; ein anderer liest auf einem Hochsitz Weltliteratur; Miroslav Klose und Heinrich Heine haben Cameos… Und alles ist komplex miteinander verlinkt, verknotet und verbunden. Um es einmal festzuhalten: MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN, PLATZIERT SIE AUF DEM GRAB DIE GIESSKANNE MIT DEM AUSGUSS NACH VORNE ist ein großer literarischer Spaß mit jeder Menge Tricks der hinterlistigen Art. Irgendwann habe ich aufgehört, mir die Querverweise, Meta-Gags und Spielereien zu markieren, es nahm einfach kein Ende. Und eigentlich liebe ich solche kunstvoll verschnörkelten Texte auch (der Saša auf Helgoland zum Beispiel ist sich seinem Figurendasein vollkommen bewusst, denn als er sich in einem Gasthof endlich mal umschaut, weiß er, dass schon elf Seiten vergangen sind – ich schmeiß mich weg bei sowas!), aber diesmal ist der Funken nicht oder irgendwie nur ab und zu übergesprungen. Es ist nämlich so, dass ich Stanišić nicht nur wegen seiner verspielten Art zu schreiben so schätze, sondern vor allem auch wegen der Ernsthaftigkeit, die er versiert unter seine Funken sprühende Prosa legt; das hat mir diesmal gefehlt. Sicherlich haben ein paar der Figuren seelisch schwer zu schleppen und hier und da sind wirklich schlaue Sätze über unsere in vielerlei Hinsicht defekte Gesellschaft zu finden. Aber durch die »Große Zaubershow der stilistischen Tricks«, die Stanišić diesmal mit lautem Tschingderassabum abliefert, lenkt er den Blick zu sehr vom Detail weg. Und wenn sich der ganze Bühnennebel dann verzogen hat, ist kaum noch was Brauchbares in Erinnerung geblieben. Zu viel Spielerei, zu wenig Tiefgang – leider. Ich halte Saša Stanišić nach wie vor für einen brillanten Schriftsteller, glaube aber, bei meinem Fanboy-Poster hat sich gerade ein Klebeband gelöst…

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