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Rezension zu
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

In der Zauberkugel

Von: Michael Kuhl
13.07.2024

Der Sommer gibt alles. Die Sonne knallt hinab auf die Stadt. Saša und seine Freund:innen haben sich auf die Hänge verzogen. Oben, in die Weinberge. Hier ist es kühler. Viel kühler als im Wohngebiet, wo kluge Planer vergessen hatten, Bäume mitzuplanen. Gesprächsthema sind die Familienurlaube. Klassisch nach Italien, sagt der eine. Ein anderer spricht von der Türkei, zu der er keinerlei Verbindung hat. Bis auf die sechs Wochen im Sommer, weil Vater es so wünscht. Sein Zuhause, ihr aller Zuhause, ist diese Stadt am Neckar. Und für Saša? Helgoland. Das gibt es? Noch nie von gehört. Saša schon, und Jahre später, wieder dieser Ort, dieser rote Felsen mitten in der Nordsee. Ein Déjà-vu, dieselbe Kneipe, dieselbe Frau. Nur Jahre später. Hier sei er noch nie gewesen, gibt Saša im Quasiverhör zu Protokoll, und dennoch ist seine Erinnerung lebhaft. In seiner Phantasie sieht er alles vor Augen. Das Meer und den Strand, wo Heinrich Heine schwamm. Wo er im Inselort von der Revolution erfuhr und seine Hoffnungen für das französische Volk zu Papier brachte. Urlaub hieß für Saša damals Freiheit von den Eltern und Lesen im Hochsitz. Und als er liest, Geschichten imaginiert, darin versinkt, hört er Rufe. Die Stimmen der Kumpels, die fragen, wo Saša bleibt. Wann er wiederkomme. Es sei doch Samstag und Frau Idzikowska brät ihren Braten für die Jungs zum Doppelkopf. „Zum Doppelkopf triffst du dich, weil du beim Doppelkopf nicht spürst, dass die Zeit existiert. Anders als auf der Arbeit oder nach dem Aufwachen oder beim Frisör. Beim Doppelkopf spürst du weder das harte Tuch, aus dem die Vergangenheit gewebt ist, noch hörst du die Sorgen aus der Zukunft deinen Namen rufen.“ (S. 126) Hätte Saša Stanišić mit ‚Herkunft‘ nicht kürzlich den Deutschen Buchpreis gewonnen, dieses Buch hat die Auszeichnung verdient. Sein aktueller Roman ‚Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne‘ ist inhaltlich, stilistisch und formal ein Phänomen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Stanišić bleibt seinen bisherigen Arbeiten treu und stellt coming-of-age-like sein autofiktionales Ich inklusive Jungsclique in den Mittelpunkt. In jedem Kapitel thematisiert der Autor alltägliche Episoden und bindet sie im großen Handlungsrahmen mosaikartig zusammen. Sprachlich trägt jede Geschichte das individuelle Idiolekt seiner Protagonist:innen. Diese Stärke findet sich ebenfalls in der Form wieder. Auf 254 Seiten wechselt der Autor Erzählzeit, Format und Perspektive. Zugleich ist der Roman Produkt seiner Zeit und Stanišić deutlich in seinen Bezügen: Literatur als Zeitgenossenschaft. ‚Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grad die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne‘ ist ein Roman, der geschichtsbewusst und hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Stanišić ist ein Meisterstück gelungen, dass sich nicht in Genres fassen lässt. Ein Roman, der zuckersüß und mit jugendlich ehrlicher Neugier aufwartet, ohne in der Sommerhitze zu verglühen. Ein Roman als Blick in die Zauberkugel des Lebens.

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