Rezension zu
Wirres Haar

Nachdem wir uns im Februar 2023 mit Yosano Akikos herausragender Essaysammlung Männer und Frauen beschäftigen durften, hatten wir bereits damals die Hoffnung auf weitere Übersetzungen dieser großartigen japanischen Autorin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geäußert. Jetzt hat @manesse.verlag ihre erstmals 1901 publizierte Gedichtsammlung Wirres Haar (Midaregami) in einer genialen Übersetzung des Japanologen Eduard Klopfenstein vorgelegt. In 399 Tanka (= 1300 Jahre alte reimlose japanische Gedichtform) entfaltet sich ein Panorama aus Realität und Phantasie. Die Dichterin verarbeitet hierbei die turbulenten Jahre der frühen Beziehung zu ihrem späteren Ehemann, dem damals schon verheirateten Dichter Yosano Tekkan, mit dem sie eine Affäre hatte und um den sie wiederum mit einer weiteren Dichterin konkurrierte. Der Übersetzer schafft es sowohl die ungewöhnliche Struktur der Tanka als auch die poetische und sehr blumige Sprache gut zu transportieren. Jedes Tanka steht dabei grundsätzlich für sich, allerdings ermöglicht das Nachwort eine sehr gute Einordnung der einzelnen Kurzgedichte zu realen Ereignissen im Leben der Künstlerin und erschließt die Zusammenhänge. Erstaunlich erscheint es dem heutigen Lesenden, dass diese Gedichte 1901 noch ein veritabler Skandal waren. Nicht nur die Affäre an sich, sondern auch vermeintliche Pornografie war dabei der Vorwurf anderer (männlicher) Dichter des japanischen Mainstreams gegenüber einzelnen Tanka. Insgesamt handelt es sich um eine schöne, kurze Sammlung, die eine weitere Facette der Feministin und Dichterin Yosano Akiko nunmehr auch auf Deutsch zugänglich macht.