"Eure Tugend ist Hochmut"
Von:
Revolverheld
aus Wiesbaden
27.05.2024
Ich kenne Philipp Hübl aus der Sondersitzung zum Gendern im Rahmen der "Bullshit-Resistenz". Da sieht man einen klugen Mann, der sehr unaufgeregt die Themen dieser aufgeregten Zeit bespricht. Mit der gleichen Attitude hat er sein neues Buch verfasst: ruhig, klar und klug argumentierend und dennoch erfreulich unakademisch im Ausdruck. Wer bei "Philosoph" gleich denkt: "Äääh, nee, das lass ich vielleicht lieber", der wäre in diesem Fall schlecht beraten. "Moralspektakel" ist zwar unabweisbar ein Sachbuch, aber Hübls Sprache stellt keine unnötigen Hürden auf, seine Gedanken zu verstehen. Und man erkennt im Geschriebenen sogar einen sympathischen Schreiber, dem jetzt nicht gleich ein ganzer Schalk im Nacken kratzt, der sich aber auch nicht scheut, eine augenzwinkernde Bemerkung zu machen. So wird die intellektuelle Lektüre schiergar zu einem Vergnügen. Und er ist bei aller Zugewandtheit der Versuchung nicht erlegen, moderne Marotten gedeihen zu lassen; positiv ist mir aufgefallen, dass bei ihm "soziale Netze" nicht etwa "soziale Netzwerke" sind, so wie wir auch nicht mit dem Fischer- oder Einkaufsnetzwerk auf Nahrungsmittelsuche gehen. Das ist stilistisch schön.
So viel zu Sprache und Stil vorab, denn ich habe nur mal vor einer erstaunlichen Menge an Jahren Soziologie studiert, bin also nicht als Erster berufen, mich inhaltlich zu äußern. Dennoch ist mir aufgefallen, dass Hübl viel mit Pierre Bourdieu argumentiert – einem aus meiner Sicht heuer viel zu wenig beachteten Soziologen, dessen Forschung über soziale Ungleichheit und soziale Mobilität ("Distinktionsgewinn") uns heute noch so viel helfen könnte, Erkenntnisse zu gewinnen ("Die feinen Unterschiede" gehört laut International Sociological Association zu den zehn wichtigsten Publikationen der Soziologie). Und: Ähnlich wie Bourdieu, der rein theoriegetriebene Soziologen gern "Theoretizisten" zeihte, legt Hübl viel Wert auf empirische Belege seiner Hypothesen.
Ich konnte für mich viele Erkenntnisse mitnehmen und viele Dinge sortieren, die ich intuitiv schon irgendwie so oder so ähnlich gesehen habe. Nun aber ergibt das alles ein Bild, zumal eines, das gründlich von vielen Seiten ausgeleuchtet wurde und wohlbegründet ist. Um doch noch konkret zu werden: Hübl beschreibt und ordnet viele der .. sagen wir .. Eigentümlichkeiten in diesem zeitgeist-geschwängerten Moralspektakel, die ich als ein Linker seit Jugendtagen seit einiger Zeit nicht ertragen kann: Was mir heute als "links" und "menschlich" und "fürsorglich" kredenzt wird, erscheint mir zumeist als das genaue Gegenteil von dem, wofür ich mein Leben lang gestritten habe. "Moralspektakel" hat mir den Schmerz genommen, nicht mehr dazuzugehören und infolge politisch heimatlos zu sein, weil es mir gezeigt hat, dass nicht ich derjenige bin, der seine Position verändert hat, sondern dass sich die Linke verändert hat. Und dass meine zunächst noch naive Kritik in einer philosophischen Betrachtung Halt findet. Insofern war das Buch für mich Balsam.
Mit Simone de Beauvoir wurde ich erstmals nachdenklich: Etwa zur gleichen Zeit, als die ganze Welt die Frage erörtert hat, ob ein Weißer ein "schwarzes" Gedicht übersetzen könne, las ich Simone de Beauvoir, die Charles Maurras zitierte, der behauptet habe, ein Jude könne ein Gedicht von Racine nicht empfinden .. Und dann dachte ich, ist das nicht exakt das gleiche Argument wie im Falle Gorman? Nur mit dem Unterschied, dass Maurras ein gewalttätiger Rechtsradikaler war, ein engagierter Kämpfer der Action Française.
So wäre wirklich alles gut, wenn nicht sein Verlag auf seiner Internetseite seinen moralisch einwandfreien Standpunkt mit Gendersternchen kundtun müsste. "Eure Tugend ist Hochmut. Sie verspricht Euch die Zugehörigkeit zu einer Elite, zu einer neuen Art von Aristokratie", lässt Manès Sperber einen seiner Protagonisten in "Wie eine Träne im Ozean" sagen. Bourdieu hat es ähnlich formuliert: "Der Humanist ist eben auch befriedigt, wenn er sagt, er sei Humanist."